Linn Reusse © Arno Declair
Anja Schneider, Linn Reusse © Arno Declair
Anja Schneider, Marcel Kohler, Linn Reusse © Arno Declair
Anja Schneider, Marcel Kohler © Arno Declair
Linn Reusse © Arno Declair
Linn Reusse, Anja Schneider © Arno Declair
Marcel Kohler © Arno Declair
Linn Reusse © Arno Declair
Marcel Kohler, Holger Stockhaus, Linn Reusse © Arno Declair
Holger Stockhaus, Linn Reusse © Arno Declair
Familie Wingfield gibt nicht auf, trotz abwesenden „Ernährers“. Mutter Amanda und ihre Kinder Laura und Tom versuchen ihrem bescheidenen, von harter Arbeit geprägten Leben eine Wendung ins Positive zu geben. Doch je energischer die drei ihre Ziele verfolgen, desto mehr behindern und schaden sie einander gegenseitig – ein Musterbeispiel toxischer Umklammerung und übergriffiger Projektionen. Lauras größte Freude, die titelgebende Figürchensammlung, steht dabei sinnbildlich für die Zerbrechlichkeit des Wunsches, über sich selbst hinauszuwachsen oder einfach nur: schadlos zu bleiben.
Sein Debütstück „Die Glasmenagerie“ machte den US-amerikanischen Autor Tennessee Williams 1946 über Nacht berühmt und bewährte sich als melodramatisches Meisterwerk über Jahrzehnte auch im deutschsprachigen Raum. Die Inszenierung von Stephan Kimmig am Deutschen Theater Berlin unterstreicht die Zeitlosigkeit der dargestellten Familienkonstellation. Um es mit der
Frankfurter Allgemeinen zu sagen: „Was man an diesem Abend zu sehen bekommt, ist ein wahres Schauspielfest, bei dem die vier Darsteller alles zeigen können, was in ihnen steckt: Der Slapstick ist unterhaltsam, die Pointen sitzen, das Gefühl der Rührung setzt im richtigen Moment ein – was man sonst vor allem aus dem Kino kennt, das sinnübertragende, gefühlsanstiftende Spiel, hier findet es einmal wieder an seinem ursprünglichen Ort statt. Warum? Weil der Regisseur den Mut besitzt, die Zartheit des Stücks zart zu lassen und - die Traurigkeit traurig.“
Die Glasmenagerie
von Tennessee Williams
Weiterspielen-Neufassung einer Aufführung des Deutschen Theaters Berlin
Mit
Anja Schneider (Amanda Wingfield)
Linn Reusse (Laura Wingfield)
Marcel Kohler / Paul Grill (Tom Wingfield)
Holger Stockhaus (Jim O’Connor)
Regie Stephan Kimmig
Bühne Katja Haß
Kostüme Anja Rabes
Musik Michael Verhovec
Licht Robert Grauel
Dramaturgie Ulrich Beck
Deutsch von Jörn van Dyck
Aufführungsrechte Theaterverlag Jussenhoven & Fischer
Aufführungsdauer ca. 2 ½ Stunden, eine Pause
Alle Fotos © Arno Declair
Premiere am 16. Dezember 2016, Deutsches Theater Berlin
Gastspiele: Fürstenfeldbruck (2017), Siegen (2017), Ludwigsburg (2018)
weiterspielen-Premiere am 20. April 2024 am TAK Liechtenstein (Spielort SAL), weitere Gastspiele in Aarau (Reithalle), Baden (CH, Kurtheater), Fürth (Stadttheater)
ORIGINAL-TRAILER DES DEUTSCHEN THEATERS BERLIN:
Glasporträt eines Mädchens
Eine Kurzgeschichte von Tennessee Williams (Anfang)
Wir wohnten in der Maple Street in Saint Louis im dritten Stock, und in unserem Block war eine Garage mit Tagundnachtbetrieb, eine chinesische Wäscherei und ein Wettbüro, das als Tabakladen getarnt war.
Ich war wohl sehr anormal und schien vor der Alternative zu stehen, mich ganz und gar zu ändern oder zugrunde zu gehen, denn ich war ein Poet, der in einem Warenhaus sein Brot verdienen musste. Meine Schwester Laura ließ sich noch weniger leicht einordnen als ich. Sie machte aus eigenem Antrieb überhaupt keinen Schritt auf die Welt zu, sondern stand, um ein Bild zu gebrauchen, am Rande des Wassers mit Füßen, die sie aus Furcht vor der möglichen großen Kälte nicht bewegte. Und ich bin sicher, dass sie sich niemals vom Fleck gerührt hätte, wenn meine Mutter, die für eine Frau ungewöhnlich energisch war, sie nicht rücksichtslos ins Wasser geworfen hätte und sie, als sie zwanzig Jahre alt geworden war, in unserer Nähe bei einer Handelsschule angemeldet hätte. Von ihrem Zeitungsgeld - Mutter warb Abonnenten für Frauenzeitschriften – hatte sie Lauras Schulgeld für einen halbjährigen Kursus im voraus bezahlt. Das führte zu nichts.
Laura versuchte zwar, sich das Schema der Schreibmaschinentastatur einzuprägen, saß zu Hause viele Stunden stumm vor der Blindschreibetabelle und starrte auf diese, reinigte und polierte aber unterdessen ihre unzähligen kleinen Glasfigürchen. Das geschah jeden Abend nach dem Essen. Mutter ermahnte mich dann, dass ich mich ganz still verhielt.
„Deine Schwester lernt ihre Blindschreibetabelle!" Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es ihr nicht viel nützen würde. Und ich behielt recht. Den Platz der einzelnen Buchstaben hatte sie offenbar behalten bis zu dem Augenblick, da am Wochenende Geschwindigkeitsübungen gemacht wurden, husch, waren alle Buchstaben aus ihrem Kopf davongeflogen, wie eine aufgescheuchte Vogelschar.
Am Ende konnte sich Laura gar nicht mehr entschließen, in die Schule zu gehen. Eine Zeitlang verheimlichte sie dies Versagen. Wie bisher verließ sie jeden Morgen das Haus und ging einfach sechs Stunden im Park spazieren. Da es Februar war, holte sie sich bei dem Herumlaufen in Wind und Wetter eine Influenza. Nun lag sie ein paar Wochen mit einem seltsamen glücklichen Lächeln auf den Lippen im Bett.
Natürlich verständigte Mutter telefonisch die Schule von der Krankheit. Am anderen Ende der Leitung schien man Mühe zu haben, sich überhaupt an Laura zu erinnern, was meine Mutter verstimmte, die nun recht scharf sagte: „Laura besucht schon zwei Monate Ihre Schule, und Sie könnten ja wenigstens den Namen kennen!" Und da platzte die Bombe, denn nach kurzem Zögern erwiderte die Sprecherin am anderen Ende ebenso scharf, ja, nun erinnere sie sich an Miss Wingfield, aber die sei im letzten Monat nicht einen Tag in der Schule gewesen. Mutters Stimme überschlug sich. Eine zweite Person wurde ans Telefon geholt, um die Angaben der ersten zu bestätigen. Mutter hängte auf, ging ins Schlafzimmer, wo Laura lag und nicht mehr so glücklich lächelte, sondern gespannt und erschrocken dreinsah. Ja, gab Laura zu, man hatte die Wahrheit gesagt. „Ich konnte nicht mehr hingehen, ich hatte viel zu große Angst, und mir war ganz schlecht davon!"
Nach diesem Fiasko blieb meine Schwester im Hause und die meiste Zeit über in ihrem Schlafzimmer. Das war ein enger Raum mit zwei Fenstern, die auf einen düsteren Gang zwischen zwei Flügeln des Hauses sahen. Wir nannten ihn „Tal des Todes", aus einem Grund, der erzählenswert ist. In der Nachbarschaft waren zahllose streunende Katzen und ein besonders bösartiger schmutzigweißer Chow-Chow, der diese ewig jagte. Im Freien und über Feuerleitern entkamen die Katzen meistens dem Hund, aber dann und wann brachte er es klugerweise fertig, ein junges, unerfahrenes Kätzchen in diese Sackgasse zu treiben, an deren Ende direkt unter den Fenstern meiner Schwester die Katze die tödliche Entdeckung machen musste, dass der scheinbare Fluchtweg in Wirklichkeit ringsum verschlossen war, eine düstere Gruft aus Beton und Ziegelmauern, zu hoch für jede Katze, um sie zu erklettern, eine Gruft, in der sie sich stellen und ihren Tod anspucken musste, bis er sich auf sie stürzte. Kaum eine Woche verging, ohne dass sich nicht dieses grausige Drama wiederholte.
Der Gang war Laura daher ganz verhasst geworden, weil sie ihn nicht sehen konnte, ohne sich an die Angstschreie und das Todesröcheln zu erinnern. Sie zog daher die Sonnenblenden nie hoch, und weil Mutter elektrisches Licht nur bei wirklichem Bedarf zu brennen gestattete, verbrachte sie fast alle Zeit in dauerndem Zwielicht. Drei schmutzige, elfenbeinfarbene Möbelstücke standen im Zimmer, ein Bett, ein Schreibtisch und ein Stuhl. Über dem Bett hing ein auffallend schlechtes religiöses Bild mit einem sehr weiblichen Christuskopf, dem dicke Tränen aus den Augen liefen. Den ganzen Charme des Raumes machte die Glassammlung meiner Schwester aus. Sie liebte farbiges Glas und hatte ringsum an allen Wänden Borte, die mit kleinen Glasfigürchen in hellen, zarten Farben vollgestellt waren. Sie wusch und polierte sie mit nimmermüder Sorgfalt. Wenn man den Raum betrat, herrschte immer ein leuchtend irisierendes Schimmern in ihm, das von den Glasfigürchen ausging. Sie fingen auch den schwächsten Lichtstrahl auf, der durch die Jalousien aus dem Tal des Todes ins Zimmer drang. Ich weiß nicht, wie viele dünne, zarte Glassachen dort standen. Sicher Hunderte, doch Laura, die jede liebte, hätte es genau sagen können.
Sie lebte in einer Welt aus Glas und in einer Welt aus Musik. [...]
Pressestimmen
Mit Interpretationen, Aktualisierungen und Erklärungen hält sich der Regisseur zurück. Vielmehr setzt er auf Atmosphärisches, auf Stimmungen und Schwingungen – und auf das formidable Schauspieler-Quartett, das aus diesem unspektakulären, stellenweise etwas öden Familiendrama einen sehenswerten Theaterabend macht. [...]
Anja Schneider (vormals Protagonistin bei Armin Petras am Berliner Gorki-Theater und am Schauspiel Stuttgart, nun neu im DT-Ensemble) ist eine Schau in dieser Rolle: hochtourige Dampfwalze, Nervensäge und Ever-young-Blondine in dauerplappernder Übergriffigkeit. Kindisch, komisch, kokett bis an die Grenze zur Überzogenheit oder besser: Überlebensübermütigkeit – aber doch auch durchlässig für den Schmerz, die Sorge, die Einsamkeit dieser Frau. [...]
Die Außenseiterin Laura, ein Mädchen mit dicken Brillengläsern, Schlabberlook und der Unschulds-Aura von Björk in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark", hat einen eigenen Nähmaschinenplatz rechts an der Wand. Wenn sie alleine ist, legt sie eine Schallplatte aus Papas zurückgelassener Sammlung auf – die gut ausgewählten Songs sind aus Kimmigs eigener Playlist –, und dann tanzt sie. Und wie sie tanzt! So wunderbar linkisch-erotisch-exzentrisch und ganz und gar bei sich, dass Linn Reusse dafür Szenenapplaus bekommt. Ohnehin ist es faszinierend, ihrer Laura zuzusehen: wie sie buchstäblich ihr eigenes Ding macht. [...]
Fast boulevardesk komisch und slapstick-grell wird es nach der Pause, wenn Tom seinen Arbeitskollegen Jim O'Connor als möglichen Bräutigam für Laura mit nach Hause bringt. Herrlich die Aufregung der Mutter, die sich in lächerlicher Jungmädchen-Aufmachung dem Mann an den Hals wirft! Und es ist von zarter Komik, wie Laura sich vor diesem Jim nach und nach ihrer Scheu und ihres Fummels entkleidet. Holger Stockhaus ist aber auch ein Charmebolzen erster Güte, ein Typ mit ansteckender Zukunftszuversicht, und ein grandioser Entertainer ist er noch dazu. Wie er Laura in pantomimisch-sängerischer A-cappella-Bestform ein ganzes Jazzkonzert vorjammt, ist zum Niederknien.
Christine Dössel, Süddeutsche Zeitung
Well-made plays, mal laut, mal leise: In Berlin inszeniert am Deutschen Theater Stephan Kimmig Tennessee Williams' "Glasmenagerie".
Von Träumern, die sich mit Ersatzglückseligkeiten die Tristesse der Realität vom Leibe halten, erzählte 1944 Tennessee Williams in seinem biografienahen Debütstück aus einem St. Louis der späteren 30er Jahre. Amanda Wingfield, deren Mann sich vor langer Zeit aus dem Staub gemacht hat, lebt mit ihren erwachsenen Kindern Tom und Laura in ärmlichen Verhältnissen. [...]
Das Kammerspiel spielt hier auf großer Bühne, von Katja Haß weit entfernt vom prekären Wohnumfeld der Wingfields in einen Riesensymbolraum gepackt, ein fensterloses, mehrstufiges Zwischenreich aus Schneiderei, Fabrikhalle und Wohnzimmer mit grün oxydierten Wänden. [...]
Anja Schneider füllt den Raum mühelos als hysterische Drama Queen, dauerhochtourig und getrieben von der Angst: "Wie sieht die Zukunft aus?" Sohn Tom findet Genießen schwierig bei gefühlten 400 Anweisungen wie es zu schmecken hat. Der Tochter reißt die Mum die dicke Brille von der Nase und predigt Kompensation der Behinderung durch Charme. Den wohlbekannten Nervfaktor hyperaktiver Wohlmein-Mütter treibt Schneider in die schrille Karikatur einer aufgedrehten Sitcom. Marcel Kohlers Tom immerhin gibt ihr Contra mit abrupt heftigen Bewegungen der langen Gliedmaßen, weit aufgerissenen Augen, flatternden Händen und sich überschlagenden Worten, während Linn Reusses Laura sich ungelenke Tanzmoves zum Sound vom Plattenspieler abseilt oder ihre beiden Trosthühner (lebend!) aus dem Käfig hervorholt und mit dem Vaterfoto ins Gespräch bringt. [...]
Und Laura tanzt. Für sie wird es zwar kein Happy End geben, für diese Kímmig-Inszenierung aber schon.
Barbara Burckhardt, Theater heute
Ach, diese Laura mit dem großen Walfisch auf dem T-Shirt: Sie weiß ja nicht mal, wovon sie träumen soll. Linn Reusse spielt dieses Wesen, hornbrillengezeichnet, als jüngferlich Umschattete; ihre jungen Schultern schon so stumpf. Spielt's mit einer so zart wie klobig um Schutz flehenden Zurückgezogenheit – die findet sie bei der Glasmenagerie und bei Musik von zerkratzten Schallplatten. Ein Schulmädchenreport der traurigsten Art.
Als Mutter: Anja Schneider. Eine starke, bezwingende Schauspielerin aus dem Grenzland von Kühle und Schmiegsamkeit, von Entrückung und Erdung, von Weichheit und forscher Schärfe. Ihre Amanda leugnet all diese miesen Wirklichkeiten mit drahtigen Frohsinn und fürsorglichem Erziehungszorn. Die Schneider ist großartig! Eine All-American Mom, die ihre Kinder ins Bessere, Tüchtigere, Erfolgreichere treiben möchte.
Der brilliante Slapsticker Holger Stockhaus erspielt dem Abend – als plötzlich auftauchender junger fremder Jim, ein Galan der laxen Kaugummikultur – einen schmerzend bösen, erschütternd, schäbigen Erniedrigungsmoment: als er nämlich die verhemmte Laura tanzend und kussnah in den Rausch halb nackter Erwartung versetzt – um sie dann stehen zu lassen in ihrer peinigenden Scham. "When you collapse" dröhnt's vom Plattenspieler [...]
Marcel Kohler gibt den Tom als einen Jungen, der etwas verwundert in seinem schlaksigen Körper steckt und sich in der tollkühnsten Existenzthese in den Horizonte-Rachen wirft. [...]
Was sich in dieser Aufführung abspielt, ist Einübung in ein Dasein, das sich um seine eigene Zeit betrügt. Kimmig inszenierte das ergreifend. Hier wird nicht mit dem Stück, sondern miteinander gespielt. Es gilt das Zueinander, und so kommt es zu – Beziehungen. Ins Gehäuse der Inszenierung wurden kleine Trennwände ironischer Herablassung zementiert. An Rührszenen wird nichts gerührt, sie dürfen (großenteils) so sein, wie sie sind, und damit bewahrheitet sich Adorno: Kunst entsteht dort, wo sie an gefährdeten Stellen Glück hat. [...]
Die Gestalten – nein – man darf schon sagen: die Menschen – des Stücks wirken eine Spur ärmer, verkrüppelter, verzweiflungskesser, als sie Williams schuf. Weil sie nicht nur von ihm, sondern auch von der Regie geliebt werden. Die Kraft der verdoppelten Schmerzen. Ganz einfach. Liebe, die nicht besser weiß. Aber die weiß. Die weiß, was Menschen in der Welt hält: die Gewissheit nämlich, dass Gott immer wieder Gründe zum zeitweiligen Aufatmen gibt. Denn auch ein Folterer braucht mal freie Stunden.
Hans-Dieter Schütt, neues deutschland
Stephan Kimmig gelingt eine zeitlose Inszenierung von Williams Werk. Das stimmige Bühnenbild(K atja Haß) und die kalte Beleuchtung erzeugen bei dem anwesenden Publikum eine Atmosphäre der Perspektivlosigkeit. Eindrucksvoll ist der Beleuchtungswechsel von kalten Industrieleuchten und warmem Kerzenschein – ein verzerrter Spiegel der Stimmungen und Gefühlslage der Protagonisten. [...]
Der Einsatz von wohl ausgewählten Musiktiteln erzeugt einen dynamischen Szenenwechsel, der cineastisch, symbolistisch und zuweilen surreal anmutend ist und das innere Seelenleben der Akteure offenbart. Ferner tut es gut, dass Kimmig auf den Einsatz einer melodramatischen Stilistik verzichtet und stattdessen wohldosierte Komik einsetzt, die das Stück frisch und kurzweilig erscheinen lassen. [...]
Die Schauspieler bieten allesamt eine überzeugende Leistung an. Hervorzuheben ist Anja Schneider, im Stuttgarter Raum, ein nur allzu bekanntes Gesicht, als Amanda Wingfield, die permanent exzentrisch, nervtötend und lautstark ihre Kinder traktiert. Glaubhaft verkörpert sie eine innerlich zerrissene Frau, die jung geblieben ist, eigene Bedürfnisse und Verlangen unterdrückt, um sich völlig überfordert ihrer Mutterrolle hinzugeben und diese in ihren Augen zum Wohle ihrer Kinder ausfüllt. Marcel Kohler spielt Tom Wingfield als gelassenen Haudegen, der zudemals epische Instanz, retrospektiv die erzählte Handlung dokumentiert. Die insgesamt starke Leistung des Berliner Gastspiels wird mit wohlwollendem Applaus des Ludwigsburger Publikum honoriert.
Tobias Frühauf, Theater NETZ
Williams wollte sein 1945 uraufgeführtes Stück "in der Sphäre der Erinnerung" gespielt sehen, man könne es so "unabhängig von aller Theaterkonvention" gestalten. Das nimmt Kimmig wörtlich: Er lässt seinen Schauspielern freie Improvisationshand, und sie nehmen das zum Anlass, sich von ihren Figuren überraschen zu lassen. Linn Reusse hat für ihre Laura zwei Hühner und viele Schallplatten; sie tanzt, sie spricht stumm mit sich selbst, schaut dem Huhn ins Auge, sitzt an der Nähmaschine in diesem fensterlosen, grau-grünen Wohnkeller – immer auf der Kante zwischen entrückt und verschroben. Marcel Kohler lässt seinen Tom dampfen, hüpfen, auch schreien, aber stets so, als wisse dieser Tom selbst am wenigsten, was er da tut. Und Anja Schneider stürzt sich zwar kopfüber in ihre Rolle, nie jedoch, ohne sich dabei über die Schulter zu schauen. Es sind diese schmalen Selbstdistanzen, die dem Abend seine Fallhöhe, seine Dramatik verleihen.
Dirk Pilz, Berliner Zeitung
Die vier Schauspieler dieses Abends sind phänomenal in ihrem Zusammenspiel der Liebes- und der Hassgesten, der Berührungen, Abstoßungen, des völlig unverkrampften Miteinanders. Anja Schneider (als wurschtig verzweifelte, sehr junge, sehr erotisch aufgeladene Mutter) kämpft atemlos, zitternd, ungläubig um die Zukunft ihrer Familie, während Linn Reuse heimliche Tänze zu tränentreibenden Glanznummern macht, ohne je in triefiges Selbstmitleid abzusinken. Marcel Kohler schließlich macht die Frustration des Sohnes, der immer kurz vorm Aufbruch steht, zu einem vulkanischen Wut- und Liebesbeben von nie nachlassender Intensität.
André Mumot, Deutschlandradio Kultur
Wenn so gespielt wird, wenn solche Funken schlagen, lohnt sich kein Seitenblick: Dann will man schauen, immer nur zuschauen, wie die Bühne zur Welt wird. Wie aus wenigen Worten große Träume werden und aus leeren Blicken Verurteilungen. Lass die anderen sich auf dem Heimweg versichern, heute sehe die Wirklichkeit ganz anders aus, sei viel zu kompliziert, als dass man sie noch in kleinen Glastierchen spiegeln könne. Sollen sie doch sagen, die Metaphern seien ihnen zu weich, die Sätze zu einfach - sie haben nichts verstanden. Denn um Wirklichkeit in einem empirischen Sinn ging es hier gerade nicht: Das Stück spiele in der Erinnerung, sei "sentimental, nicht realistisch", hatte Tom, der Erzähler, zu Beginn gesagt. Und damit das Publikum aufgefordert: Stellt eure inneren Uhren, euren Herzschlag auf einen anderen, feinfühligeren Rhythmus ein! [...]
Was man an diesem Abend zu sehen bekommt, ist ein wahres Schauspielfest, bei dem die vier Darsteller alles zeigen können, was in ihnen steckt: Der Slapstick ist unterhaltsam, die Pointen sitzen, das Gefühl der Rührung setzt im richtigen Moment ein –was man sonst vor allem aus dem Kino kennt, das sinnübertragende, gefühlsanstiftende Spiel, hier findet es einmal wieder an seinem ursprünglichen Ort statt. Warum? Weil der Regisseur den Mut besitzt, die Zartheit des Stücks zart zu lassen und - die Traurigkeit traurig.
Simon Strauss, Frankfurter Allgemeine Zeitung
In Kimmigs poetischer Inszenierung - Regen fällt und es gibt Kerzenschein, kalte Sonnenstrahlen und natürlich Musik, die Kimmig so gern zum Kitten zwischen Innen- und Außenwelt klebt - da fruchtet der "American Dream" nicht. Der ist irgendwie kaputtgegangen. Wie bei so vielen heute, wo Paralleluniversen immer einen Klick entfernt und Rückzüge in die eigene Behaglichkeitszone so einfach sind. Kimmig legt den Finger darauf. Das "höher, schneller, besser" unserer Gesellschaft, in der jeder selbst dafür verantwortlich ist, ob er die holzwurmzerfressende Karriereleiter erklimmt oder herunterrasselt, das stellt er infrage. Eine Lösung präsentiert er nicht.
Elisa von Hof, Berliner Morgenpost
Kurzbiografien
Marcel Kohler Geboren 1991 in Mainz. Studium an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin (2011 bis 2015). Mehrfache Arbeit mit Christian Grashof. Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Bereits während des Studiums erste Rollen am Deutschen Theater Berlin und an der Schaubühne am Lehniner Platz. Seit 2015 ist Marcel Kohler festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. Wiederholte Zusammenarbeit mit Daniela Löffner, Stephan Kimmig und Dušan David Pařízek. Bei den Salzburger Festspielen spielt er in der Regie von Jossi Wieler in Hofmannsthals "Das Bergwerk zu Falun".
Kohler ist Gründungsmitglied des Neuen Künstlertheaters und arbeitet regelmäßig als Regisseur und Bühnenbildner u. a. mit Corinna Harfouch, mit Studierenden der Hochschule "Ernst Busch" und am Nationaltheater Weimar. Auszeichnungen: Gewinner des internationalen Wettbewerbs für neue Theatertexte Lingue in Scena des Goethe Instituts und der Buchmesse Turin für Costa. "Best Acting Prize" beim 3. Internationalen Festival der Schauspielschulen in Peking 2013. O. E. Hasse Preis 2014. Alfred Kerr Darstellerpreis für die beste Leistung eines jungen Schauspielers im Rahmen des Theatertreffens der Berliner Festspiele 2016 . In der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute wurde Marcel Kohler 2016 zum Nachwuchsschauspieler des Jahres gewählt. 2017 erhielt er den Daphne Preis der TheaterGemeinde Berlin für außergewöhnliche darstellerische Leistungen.
Am Deutschen Theater entwickelte Marcel Kohler zuletzt das Soloprojekt "Dirk und ich", mit der Spielzeit 2023/24 wechselt er an die Schaubühne Berlin.
Linn Reusse wurde 1992 in Berlin geboren. Sie studierte von 2012 bis 2016 an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Bereits vor und während ihres Studiums spielt sie Rollen im Theater (Deutsches Theater Berlin, Renaissance Theater, BAT Theater) sowie in Film- und Fernsehproduktionen (u. a. "Die Rote Zora", "Goethe!", "Bloch") und ist als Sprecherin für Hörspielproduktionen tätig. Bei den Nibelungen-Festspielen Worms spielte sie 2018 Swanhild in Siegfrieds Erben. Seit der Spielzeit 2016/17 ist Linn Reusse Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. 2019 erhielt sie den Daphne-Preis der TheaterGemeinde Berlin, der herausragende junge Darsteller_innen der Berliner Kulturszene auszeichnet. Am Deutschen Theater war sie zuletzt in "Angabe der Person" (Regie Jossi Wieler) und "Marder" (Regie Stephan Kimmig) zu sehen. Mit der Saison 2023/24 wechselt Linn Reusse ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg.
Anja Schneider Geboren 1977 in Altenburg, studierte Anja Schneider von 1997 bis 2001 an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Nach ihrem Studium ging sie ans Schauspiel Leipzig, wo ihre enge Zusammenarbeit mit Armin Petras begann. 2005 erhielt sie den Dr. Otto Kasten Preis als Nachwuchsschauspielerin des Jahres. Im Jahr darauf wechselte Anja Schneider an das Maxim Gorki Theater (Intendanz: Armin Petras) und wurde im Juni 2010 mit dem Theaterpreis der Freunde des Maxim Gorki Theaters ausgezeichnet. Von 2013 bis 2015 war sie Ensemblemitglied am Schauspiel Stuttgart, wo neben der Arbeit mit Armin Petras vor allem die Begegnung mit Stephan Kimmig für sie wichtig wurde, genauso wie am Deutschen Theater Berlin, an dem sie seit der Spielzeit 2016/17 engagiert ist, die Zusammenarbeit mit Daniela Löffner. Darüber hinaus ist Anja Schneider in zahlreichen Kino und Fernsehproduktionen zu sehen.
Holger Stockhaus Geboren 1973 in Hannover. Von 1994 bis 1998 Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule in Bochum. Nach ersten Engagements am Schauspielhaus Bochum, am Deutschen Theater in Göttingen und am Staatstheater Kassel spielte er u. a. am Schauspiel Leipzig (Centraltheater), am Maxim Gorki Theater, am Schauspiel Frankfurt, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, am Schauspiel Stuttgart und arbeitet regelmäßig u. a. mit den Regisseuren Sebastian Hartmann, Armin Petras, Martin Laberenz, Milan Peschel, René Pollesch und Herbert Fritsch. Er ist außerdem in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, u. a. in der mehrfach preisgekrönten Tartortreiniger-Folge Schottys Kampf (u. a. Grimme-Preis), im Ladykracher-Ensemble um Anke Engelke (viermal Deutscher Comedypreis), bei Sketch History (ebenfalls Comedypreisgekrönt), in der bitterbösen Gesellschafts-Studie Zur Hölle mit den anderen (Regie: Stefan Krohmer), als Bestattungsunternehmer in der Krimireihe Friesland, sowie in Detlev Bucks Kinofilm "Wuff".
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