Gertrud

Gertrud
Schleef – Fedler – Bill, Koch, Zilcher

Gelebte und lebendige Geschichte des 20. Jahrhunderts: „Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in der Weimaraner, die Ehe auf Hitler und das Alter in die DDR. Wohin mein Kopf. Das 1000-jährige Gottesreich erleb ich nimmer." Gertrud pflegt ihren kranken Mann Willy bis zu seinem Tod. Sie bleibt allein in der thüringischen Kleinstadt Sangerhausen zurück, versucht sich neu zurechtzufinden, begleitet von ihren Erinnerungen. Sie trifft Freundinnen, besucht ihre Söhne in Berlin und Westdeutschland, läuft durch ihre Heimatstadt, spricht mit ihrem toten Mann, sucht eine neue Liebe, sehnt sich nach dem Tod.
Einar Schleefs Roman
Gertrud ist ein eigenwilliger, sprunghafter, sich preisgebender Erzählsturm. Schleef schrieb den fiktionalen Monolog seiner Mutter Gertrud, einer Näherin, als ein schroffes und wütendes, sehnsüchtiges und gieriges sich Mitteilen einer „anständigen Frau“, aber auch als eine an ihren Toten vereinsamende Geschichte des 20. Jahrhunderts zwischen Kaiserreich und später DDR. Mit dem Hintergrund der Industrie- und Bergbaustadt Sangerhausen verweist Schleef zugleich auf die Zerrüttung der Verheißungen des industriellen Zeitalters und dessen proletarischer Milieus, verweist auf kleinbürgerlichen Überlebenszwang und das beständige Ausbleiben der Zukunft.

Gertrud

von Einar Schleef

Bühnenbearbeitung des gleichnamigen Romans von Jakob Fedler

Produktion des Ensembles nach der Fassung für das Schauspielhaus Bochum und das Deutsche Theater Berlin


Mit

Antonia Bill

Wolfram Koch

Almut Zilcher


Regie Jakob Fedler

Bühne / Kostüme Dorien Thomsen 


Aufführungsdauer: 1 Stunde 45 Minuten


Aufführungsrechte: Suhrkamp Theater, Berlin


Aufführungsfotos © Arno Declair


Berliner Premiere am 15. Dezember 2017 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

Bochumer Premiere am 26. Januar 2018 am Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele)

Vorstellungen in Sangerhausen (2. November 2018) und in Halle an der Saale


ORIGINAL-TRAILER DES DEUTSCHEN THEATERS BERLIN:

Textauszug

Wir essen nachher. Da hat er gelegen. Die haben ihn gleich abgeholt. Jetzt liegt er in der kalten Kammer. Bleib sitzen. Das Wasser ist noch nicht heiß. Ich habe ihn keine Stunde allein gelassen. Ich habe hier geschlafen. Ich muß das noch wegräumen. Es ging ihm ja besser. Viel besser. Konnte ja schon wieder aufstehen. Der Doktor hat sich so gefreut, das wird schon wieder Frau, nur nicht die Geduld verlieren. Ich habe keine Nacht geschlafen. Wenn er wach war, habe ich gerufen: Willy, Willy. Dann hat er immer gesagt: Ja Trude. Oder ich habe ihn atmen gehört. Gegen 10 nochmal und um 1, da war alles in Ordnung. Ich sollte nicht wieder aufstehen. Und da bin ich eingeschlafen und um 3 war er tot. Willy, Willy. Habe ich geschrien. Ich konnte das nicht glauben. Und da wollte ich ihn richtig hinlegen, ich konnte ihn einfach nicht mehr anfassen. Ich bin gleich zu Elly gerannt. Ich hielt es keinen Moment aus. Was die für Augen gemacht, angezogen und mit. Und dann haben wir angerufen, der Doktor kam gleich. Wie lange bleibst du. Eine Nacht blieb er hier noch liegen. Ich habe das ganze Zeug gleich verbrannt. Vater mochte nicht mehr essen, extra ein Hühnchen gekauft und Diätwein.

Mich gut gehalten, zweimal geschwankt, als die Männer dich auf der Allee transportierten, dein Haar aus dem Sarg hing und an der Grube ich Erde werfen mußte. Mich der Junge und der Pfarrer gehalten. Zu Hause alle gedrückt, rote Gesichter, mich gern beim Pfarrer bedankt, gleich zurück, seine Frau im Krankenhaus. Der Junge kam nicht mit in die Kammer seinen Vater wiedersehen. Die Begonien sind erfroren. Kuchen gebacken, aß keiner viel. Elly, meine Schwestern, mein Schwager, unser Bruder mit seiner Frau. Hans nach 2 Tagen abgereist, nichtmal einen Schlafanzug mit. Die Familie grüßt. Jetzt ist er unter der Erde. Willy, der Junge neben mir, uns an den Händen gehalten, schnarche zu laut, darf ihn nicht wecken. Leise aufstehen, Decke um, wieder kalt geworden. Willy ich denke an dich, der Friedhof geschlossen. Wasche mich und komme dann. Die Weide grün, sitze auf dem Balkon, frischgestrichene Stühle, klebt bißchen die Farbe. Nur für dich. Drin schläft der Junge. Filius kratzt sich am Sack, wichst, nicht früher ertragen können Schweinerei, meine Macht gebrochen, bloß seine Mutter, was dazu sagen, wenn er sich an meinem Zeug abwischt. Ich laß ihn in Ruhe, etwas quält ihn. 

Quäl dich nicht, Junge, Mund auf, kriegst wieder ein Kind. Mich längst abgefunden. Was ist es, ein Junge. Nimm deine Mutter in den Arm. Mit wem bist du jetzt zusammen. Die wievielte Gabriele. Schluß oder ich schlag euch Berlin um die Ohren. Ganz ruhig, höre mirs erst einmal an. Bitte. Während der Prüfung hast du bei ihrer Frau Mutter gewohnt. Feine Frau läßt zu, nichts dagegen, daß ihre Tochter mit einem Mann schläft, der gerade das 2. uneheliche Kind entbunden. Und Weihnachten hat sie euch rausgeworfen, richtig, weil ihr sie gehindert habt sich totzusaufen, warum, da ist das Weib mit dir in die kalte Parterrebude aus einer Zentralheizungswohnung. Die hat dich am Schlafittchen. Feste die Flügelklammer, merke wie du lahmst. Dein Weiberreiten interessiert mich nicht. Vater wird nicht lebendig. Ein Schreiwanst kein Ersatz. 

Fahr ich kann dich nicht halten. Laß deine Mutter im Stich. Deine Mutter hört dir zu. Ich weine. Hau ab. Ich warte hier auf die Generalbeichte. Komm zurück. Junge ich friere, mir ist schlecht Junge, er muß rausgekrochen sein, zu mir, da ist er hingefallen, ich habe wirklich nichts gemerkt. Meingott, ich wurde wach, rief Willy, Willy, lag er halb auf dem Teppich, Junge ich hin, über ihm, ich konnte ihn nicht mehr anfassen, glaubte mich ekeln zu müssen. Ich verstand ja nichts mehr, abgeschlossen, an der Gonna hinten zur Oberschule, den Esel Franke umgerannt, zu Elly, die schrie gleich, als sie mich unten sah. Hätte ich ihn ans Bett gebunden. Dein kranker Vater solche Sehnsucht nach dir, erpreßt, mir den Hals abgedreht, das Leben ausgesogen. Ich muß allein sein. Hoffentlich werde ich nicht krank.


Pressestimmen

Einar Schleefs Tausend-Seiten-Roman "Gertrud" auf die Bühne zu bringen, ist eine dieser unlösbaren Aufgaben, die, wenn sie in fähige Hände geraten, doch gelingen können. Jakob Fedlers Inszenierung, die als Koproduktion des Schauspielhauses Bochum mit dem Deutschen Theater Berlin entstanden ist, ist solch ein Glücksfall. Mit einem exquisiten Ensemble gelingt ihm ein kongenialer Nachvollzug von Schleefs Projekt: Der Autor zeichnete ein Bild seiner 60-jährigen, im ostdeutschen Sangershausen lebenden Mutter zwischen Realität und Fiktion. Er mischte Tagebuch- und Gesprächsaufzeichnungen mit erdachten Bewusstseinsströmen. … unbedingt sehenswert.

Max Florian Kühlem, Ruhr Nachrichten


Jakob Fedler hat das schroffe, mäandernde Textwerk auf zwei Stunden eingedampft und es auf drei hervorragende Darsteller aufgeteilt: Wolfram Koch, Almut Zilcher und Antonia Bill. Sie sind als Gertrud zu dritt, damit sie auch im Chor sprechen können.

Katrin Pauly, Berliner Morgenpost


Schleef, der einst selbst große Chöre inszenierte, hat gern von „Chor-Riss“, von „Chor-Sprengung“ gesprochen, denn der Riss gehöre als Ausdruck einer ureigenen menschlichen Zerrissenheit zu jedem Chor immer dazu. Sie lässt sich nicht auflösen, nur durch den Rausch, nur als Droge. Der Rausch soll an diesem Abend durch Verzicht entstehen: Das Mutter-Trio hat keine Requisiten, keine Musik, kaum Lichtwechsel. Es hat Sprache, Gänge, Gestik. Reduktion als Mittel der Vergrößerung. In den zehn Punkten für Schauspieler, die Einar Schleef vor 25 Jahren notierte, heißt es an sechster Stelle: „Picasso sagt: Wenn du mit drei Farben malen kannst, male mit zwei.“

Dirk Pilz, Frankfurter Rundschau


Gertrud durchschaut sich. Manchmal. Das macht einen Teil der Komik aus, die dieser Text auch hat. Ebenso wie das Dazwischenfunken des Körpers, der mit Jucken, Furzen und Blut ihre Gedanken unterläuft. … Diese verschiedenen Zeithorizonte und Gefühlsebenen sind in "Gertrud" immer nebeneinander gegenwärtig, und das transportiert auch diese Inszenierung gut. Allmählich schlüsselt sich ihr Leben auf, die Bitterkeit, die Einsamkeit, der Leib gewordene Vorwurf. ... Knapp zwei Stunden dauert die Inszenierung und bringt dabei doch erstaunlich viele Gertrud-Momente auf die Bühne. Das puzzelt sich so nach und nach zusammen, ohne sich je allzu sehr Bedeutung zu geben. Es ist ein Schleef-Abend der leichteren Art und vielleicht deshalb ganz gut, um sich mit ihm anzufreunden.

Katrin Bettina Müller, taz


So gerät der rund 100-minütige Blick in Gertruds verworrene Hirnwindungen zu einem Fest der Schauspielkunst. Mit Wolfram Koch, Almut Zilcher und Antonia Bill erlesen besetzt, wird die Figur in unterschiedliche Lebensphasen aufgeteilt, wobei die Übergänge fließend sind. Alle drei sind Gertrud: Almut Zilcher spielt die noch rüstige Seniorin, die in einer thüringischen Kleinstadt ihren kranken Mann Willy pflegt. Antonia Bill ist die blühende Gertrud, die einst eine große Leichtathletin war. Und Wolfram Koch, der nach seinem Solo "Tod des Lehrers" an sperrigen Schleef-Texten offenbar einen Narren gefressen hat, gibt wunderbar leicht die leidende Alte mit all ihren 1000 Zipperlein.

Sven Westernströer, Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Kurzbiografien

Antonia Bill wurde 1988 geboren und stand bereits als Kind in Erlangen auf der Bühne. Sie studierte an der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch". 2011 gewann sie, am Klavier von Rainer Bielfeldt begleitet, den 1. Preis für Chanson beim Bundesgesangswettbewerb Berlin. 2013 spielte sie die weibliche Hauptrolle Edgar Reitz‘ Kinofilm Die andere Heimat und wurde als "Beste Darstellerin" für den Preis der Deutschen Filmkritik nominiert. Antonia Bill war von 2012 bis 2017 festes Ensemblemitglied am Berliner Ensemble und wirkte in Inszenierungen von Leander Haußmann, Claus Peymann, Robert Wilson, Katharina Thalbach, Luc Bondy mit. Darüber hinaus spielte sie am Renaissance Theater Berlin das Soloprogramm Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun (Publikumspreis bei der Woche junger Schauspieler in Bensheim). 


Wolfram Koch wurde 1962 in Paris geboren und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt ausgebildet. Erste Engagements führten ihn an die Freie Volksbühne, das Schiller-Theater Berlin und an das Schauspiel Frankfurt. 1995 bis 2000 war er festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum, seitdem arbeitet er frei u.a. am Schauspiel Frankfurt, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und am Deutschen Theater in Berlin. Mitwirkung in Inszenierungen von Dimiter Gotscheff, Jan Bosse, Herbert Fritsch u.v.a.m. Für ihre Rollen in Warten auf Godot (Regie Ivan Panteleev, eingeladen zum Theatertreffen 2015) wurden Samuel Finzi und Wolfram Koch mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring 2015 ausgezeichnet. Koch ist als Hörbuchsprecher aktiv und spielte zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen, seit 2013 als Tatort-Kommissar für seinen Wohnort Frankfurt am Main. 


Almut Zilcher wurde in Graz geboren. 1974 schloss sie ihre Ausbildung am Mozarteum in Salzburg ab. 1992 wurde sie von der Fachzeitschrift Theater heute für Fräulein Julie (Regie: Dimiter Gotscheff) zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Sie spielte am Deutschen Schauspielhaus und am Thalia Theater in Hamburg, am Schauspielhaus Bochum, am Schauspiel Frankfurt, am Schauspiel Köln, an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und bei den Salzburger Festspielen. Seit der Spielzeit 2006 ist sie festes Ensemblemitglied des Deutschen Theater Berlin. Almut Zilcher arbeitete u. a. mit den Regisseuren Dimiter Gotscheff, Adolf Dresen, George Tabori, Leander Haußmann, Werner Schroeter, Karin Beier, Jossi Wieler, Karin Henkel, Nicolas Stemann, Michael Thalheimer und Hans Neuenfels. 2011 erhielt sie zusammen mit Samuel Finzi, Wolfram Koch und Dimiter Gotscheff den Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung.


Jakob Fedler wurde 1978 in Köln geboren und studierte Theaterregie an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich. Von 2006 bis 2009 war er am Deutschen Theater Berlin beschäftigt, wo er bei Produktionen von Dimiter Gotscheff und Jan Bosse assistierte und in der Spielstätte BOX erste eigene Inszenierungen realisierte. Seit 2009 arbeitet Jakob Fedler als freier Regisseur an verschiedenen deutschen Stadt- und Staatstheatern:  Schauspielhaus Bochum, Wuppertaler Bühnen,  Staatstheater Oldenburg, Theater Osnabrück,  Theater Erlangen,  DNT Weimar,  Staatstheater Nürnberg, Ruhrfestspielen in Recklinghausen. 2008 war er zum Festival »radikal jung« eingeladen, 2009 wurde er als Nachwuchsregisseur des Jahres nominiert, seine Inszenierung Kaspar Häuser Meer wurde 2010 bei den Bayerischen Theatertagen ausgezeichnet. Seit 2013 hat Jakob Fedler einen Lehrauftrag für Theaterregie an der Folkwang Universität der Künste.


Dorien Thomsen wurde in Bochum geboren und studierte Kunst und Textilgestaltung an der Universität Köln. Ihr erstes Engagement hatte sie ab 2000 an den Bühnen der Stadt Köln. Danach war sie Assistentin und Mitarbeiterin des Bühnen- und Kostümbildners Jens Kilian, unter anderem am Wiener Burgtheater, an der Deutschen Oper Berlin, an den Münchner Kammerspielen, der Oper Frankfurt und bei den Salzburger Festspielen. Seit 2003 arbeitet sie als freie Bühnen- und Kostümbildnerin. Mit den Regisseurinnen und Regisseuren Christian von Treskow, Jakob Fedler, Lilli-Hannah Hoepner, Iwona Jera und dem Choreografen Josef Eder entstanden gemeinsame Arbeiten u.a. an den Theatern in Freiburg und St. Gallen, an den Bühnen Krefeld-Mönchengladbach, Theater Aachen, Düsseldorfer Schauspielhaus, Theater Erlangen, Stadttheater Gießen, Theater Münster, Ruhrfestspiele Recklinghausen, sowie für Oper und Schauspiel in Wuppertal, Deutsche Theater Berlin, Hamburger Staatsoper und das Bochumer Schauspielhaus. Seit März 2020 ist sie zudem Ausstattungsleiterin am Theater Aachen. 

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